EthikJournal 6. Jg. (2020)
"Die Politik des Engagements – kritische Reflexionen"
Editorial
Die vorliegende Ausgabe des EthikJournal durchzieht – zumindest auf den ersten Blick – ein thematischer Bruch. Dieser Bruch spiegelt gleichsam die gesamtgesellschaftliche Lage, in der sich nicht nur Deutschland, sondern weite Teile der Weltgesellschaft, spätestens seit der Qualifizierung der Corona-Krise als Pandemie durch die Weltgesundheitsorganisation am 11.3.2020, befinden. Die ersten beiden Beiträge sind noch ganz dem ursprünglichen Gesamtthema des diesjährigen Ethikjournals gewidmet: „Zur Politik des Engagements – kritische Analysen und Einschätzungen“. Den Herausgebern des Ethikjournals war es ein Anliegen, den seit Jahren zu beobachteten Hype des (bürgerschaftlich-zivilgesellschaftlichen) Engagements im Sozialwesen einer kritischen Würdigung zu unterziehen – Kritik hier im engen Sinne der von Immanuel Kant inaugurierten Bedeutung der Ermittlung von berechtigten Möglichkeiten und unüberwindbaren Grenzen beziehungsweise drohenden Deformationen.
In diesem Sinne entfalten Ansgar Klein und Thomas Röbke auf der Basis des Zweiten Engagementberichts der Bundesregierung konzeptionelle wie ethische Implikationen bürgerschaftlichen beziehungsweise zivilgesellschaftlichen Engagements, wobei insbesondere deren Monetarisierung durch die professionellen Leistungserbringer und sozialstaatlichen Leistungsträger einer kritischen Aufmerksamkeit bedarf. Diese kritische Inblicknahme greift Christian Spieß auf und fokussiert näherhin das bürgerschaftlich-zivilgesellschaftliche Engagement im Kontext der religiösen Wohlfahrtsverbände.
Im Hinblick auf die aktuellen Ereignisse haben sich die Herausgeber kurzfristig entschlossen zwei Beiträge aus der Diskurswerkstatt des Berliner Institut für christliche Ethik und Politik dieser Ausgabe des EthikJournals beizusteuern: Es ist zunächst ein Beitrag des Herausgebers selbst, in dem dieser verschiedene Entscheidungskonstellationen im Bereich des Gesundheits- und Sozialwesens diskutiert: die formale wie faktische Zuständigkeit für die gleichermaßen tiefgreifenden wie weitreichenden Einschnitte in das private wie öffentliche Leben zwischen Exekutive und Legislative; Priorisierungsentscheidungen im Bereich intensiv-medizinischer Versorgung (sog. ‚medizinische Versorgung‘); die Veralltäglichung von Triage-Entscheidungen auch im Bereich des Sozialwesens und nicht zuletzt der Beitrag religiöser grundierter Begleitung in Zeiten äußerster Versehrbarkeit. Tim Reiß greift dann seinerseits spezifische Tiefendimensionen der ethischen Diskussion um die medizinische Triage auf und diskutiert den Gehalt und die Reichweite einiger zentraler Kategorien, die in der aktuellen Diskussion im Zentrum stehen: Erfolgsaussicht, Maximierungsimperativ und utilitaristisches Gesamtnutzenkalkül.
Fachartikel
Klein und Röpke 2020
Ansgar Klein und Thomas Röbke
Ausblicke auf die Tätigkeitsgesellschaft
Die Kritik an der Monetarisierung des Engagements als Denkanstoß zum Verhältnis von Zivilgesellschaft und Wirtschaft
Zusammenfassung Die Einordnung des Engagements in der Vielfalt seiner Erscheinungsformen (Deutscher Engagementbericht 2016) stellt uns vor die Herausforderung, die Formen der Erwerbsarbeit in einen vergleichenden Horizont einzurücken, in dem auch informelle Formen der Arbeit und das Engagement in den Blick geraten. Wir verwenden für diesen vergleichenden und integrierenden Blick im Rückgriff auf Hannah Arendt den Begriff der Tätigkeitsgesellschaft. Für das Engagement, das mit Begriffen wie Ehrenamt, Freiwilligenarbeit, Selbsthilfe oder bürgerschaftliches Engagement bezeichnet wird, sind uns folgende konstitutiven Merkmale wichtig, die bereits die Enquete-Kommission zur „Zukunft des Bürgerschaftlichen Engagements“ (Deutscher Bundestag 2002) benannt hat: Freiwilligkeit, Unentgeltlichkeit, Gemeinwohlorientierung und der Bezug auf den öffentlichen Raum kennzeichnen, so die Enquete-Kommission, ein Engagement, das die Gestaltung der Gesellschaft anstrebt und sich dabei mit den Dimensionen der Partizipation immer wieder überschneidet. Dieses Verständnis des Engagements stand Pate bei der Gründung des „Bundesnetzwerks Bürgerschaftliches Engagement“ (BBE) und prägt auch aktuell die Fachdiskurse des Netzwerks. – Wir geben zunächst einen Überblick über die Befunde des Zweiten Engagementberichts der Bundesregierung (1), dann über die daraus entstehenden Bewertungen (2), um in einem dritten Schritt das Verhältnis von Zivilgesellschaft und Wirtschaft grundsätzlicher auszuleuchten (3). In einem vierten Schritt behandeln wir mit Blick auf den gesellschaftlichen und strukturellen Kontext der Monetarisierung von Engagement die hier bestehenden Anforderungen an und Herausforderungen für die Engagementförderung und Engagementpolitik (4). Abschließend ziehen wir ein Zwischenfazit (5). Alle Überlegungen sind geleitet von jahrelangen Fachdiskursen zum Thema im Bundesnetzwerk Bürgerschaftliches Engagement (BBE).
Schlüsselwörter Bürgerschaftliches Engagement – Engagement und Erwerbsarbeit – Monetarisierung – Tätigkeit – Koproduktion im Welfare Mix – öffentliche Güter
Spieß 2020
Christian Spieß
Freiwilliges bürgerschaftliches Engagement und religiöse Wohlfahrtspflege
Zusammenfassung Im vorliegenden Beitrag werden zunächst drei Dimensionen religiös-kirchlicher Wohlfahrtspraxis unterschieden: Bürgerschaftliches Engagement von religiös motivierten Menschen im Umfeld von Caritas und Kirche ist demnach gesellschaftliches, diakonisches und politisches Handeln. Von diesem Ausgangspunkt aus wird die Rolle religiöser Akteure in der Zivilgesellschaft erörtert und es wird das besondere sozialkatholische Gerechtigkeitsverständnis im Sinne einer subsidiären Gemeinwohlgerechtigkeit skizziert. Für die daraus resultierende subsidiäre Architektur des Sozialstaatsmodells erscheint die Verlagerung der Verantwortung für soziale Herausforderungen von der Politik auf freiwilliges bürgerschaftliches Engagement problematisch. Insbesondere mahnt die katholische Sozialtradition eine besondere Rücksicht auf benachteiligte Personen und Gruppen an. Die Etablierung dauerhafter Armut und eine Stabilisierung der Marginalisierung eines Teils der Gesellschaft stellt aus dieser Perspektive ein schwerwiegendes Gerechtigkeitsproblem dar, das auch die Rolle freiwilligen bürgerschaftlichen Engagements noch einmal neu in Frage stellt.
Schlüsselwörter Sozialstaat – Christliche Sozialethik
Lob-Hüdepohl 2020
Andreas Lob-Hüdepohl
Tragische Entscheidungen in Zeiten von Corona
Erste Einschätzungen aus professionsethischer Sicht
Zusammenfassung Der galoppierende Ausbruch der Corona-Pandemie hat im Frühjahr 2020 binnen kürzester Zeit zu einem weitgehenden Stillstand des öffentlichen und teilweise auch des privaten Lebens geführt. Kein Staat und keine Gesellschaft waren auf solch gravierenden Einschränkungen des Lebensalltags einer Gesamtbevölkerung vorbereitet. Um das Gesundheitssystem und darin die intensivmedizinischen Versorgungskapazitäten vor einem Kollaps zu bewahren, wurden Freiheitsrechte ebenso eingeschränkt wie soziale, ökonomische, kulturelle und nicht zuletzt auch gesundheitliche Risiken in Kauf genommen. Damit sind viele ethische Konflikte verbunden, die das Gesundheits- und nicht zuletzt das Sozialwesen betreffen. Im Zentrum stehen Priorisierungsentscheidungen, die soziale Spaltungen befördern. Neben solchen Herausforderungen stellt sich für Soziale Professionen auch die Frage nach den höchstpersönlich spirituellen Ressourcen, die auf die im Umgang mit dieser tiefgreifenden Pandemie lokal, regional und weltweit zurückgegriffenen werden können.
Schlüsselwörter medizinische/soziale Priorisierungen – Triage – Dimensionen menschlicher Gesundheit – besonders vulnerable Personengruppen – soziale Spaltungen – spiritual care – Theodizee
Reiß 2020
Tim Reiß
Erfolgsaussicht, Maximierungsimperativ, Utilitarismus
Anmerkungen zur Debatte um eine ‚Corona-Triage‘
Zusammenfassung Im Zusammenhang der Corona-Pandemie wird die Frage diskutiert, ob und wie in Situationen akuter Knappheit an Behandlungskapazitäten ethisch verantwortbar eine Behandlungsreihenfolge festgesetzt werden kann. Eine Priorisierung nach Dringlichkeit der Behandlung ist dabei unstrittig. Eine ganze Reihe medizinischer Fachgesellschaften und auch die Bundesärztekam-mer haben zusätzlich vorgeschlagen, innerhalb der Klasse höchster Dringlichkeit nach komparativer Erfolgsaussicht der Behandlung zu priorisieren. – Der Beitrag problematisiert das Kriterium komparativer Erfolgsaussicht und insbesondere seine Begründung durch einen Maximierungsimperativ durch folgende Thesen: Die suggestive Evidenz des Kriteriums der Erfolgsaussicht beruht auf einer fundamentalen begrifflichen Mehrdeutigkeit. Der Triage muss keineswegs zwingend ein Maximierungsimperativ abgelesen werden. Zudem gibt es zwischen „triagetypischen“ Katastrophensituationen und der derzeitigen Pandemiesituation relevante Unterschiede, die eine Vergleichbarkeit zweifelhaft erscheinen lassen. Während sich eine Priorisierung nach Dringlichkeit auch kontraktualistisch-deontologisch begründen lässt, steht das Kriterium komparativer Erfolgsaussicht in einem intimen Verhältnis zu utilitaristischen Begründungen. Der von utilitaristischer Seite aus öfters erhobene Rigorismusvorwurf lässt sich mit besseren Argumenten gegen die utilitaristische Position selbst wenden. – Schließlich soll darauf hingewiesen werden, dass die dargestellte ethische Grundsatzdiskussion auch für die Berufsethik Sozialer Arbeit von großer Bedeutung ist. Die wichtigsten Punkte sind hier: die Sensibilisierung gegenüber Mehrdeutigkeiten im Begriff der Erfolgsaussicht, die Vorsicht vor Maximierungsimperativen und die Attraktivität kontraktualistischer Rechtfertigungen.
Schlüsselwörter Utilitarismus – Kontraktualismus – Triage – Priorisierung – Erfolgsaussicht