EthikJournal 5. Jg. (2019)
"Pflege und Digitalisierung"
Editorial
Mit dem Schwerpunktthema „Pflege und Digitalisierung“ greift das EthikJournal ein gegenwärtig ebenso dringliches wie kontroverses Thema auf. Der Einsatz von Assistenztechniken und Robotern, so das Versprechen, soll nicht nur Pflegekräfte entlasten – dies sei insbesondere vor dem Hintergrund eines drohenden ‚Pflegenotstands‘ dringlich –, sondern auch helfen, die Selbstbestimmung Hilfsbedürftiger zu erhalten und zu unterstützen. Doch ist diesem Versprechen zu trauen? Viele Betroffene – sowohl Pflegekräfte als auch Pflegebedürftige – stehen dem Einsatz digitaler Technik in der Pflege skeptisch gegenüber. Ist dies als ein bloß gefühlsmäßiger Vorbehalt zu verstehen? Oder ist dies vielmehr Ausdruck der realistischen und rational begründbaren Einschätzung, dass mit diesen Techniken durchaus erhebliche Gefahren für ein humanes Selbstverständnis der Pflege als zwischenmenschliches Beziehungsgeschehen verbunden sind? Vor dem Hintergrund dieser Fragestellungen hat das Berliner Institut für christliche Ethik und Politik (ICEP) der Katholischen Hochschule für Sozialwesen Berlin (KHSB) am 18.04.2018 ein Fachgespräch zum Thema „Menschlich mit Technik? Pflege im Zeitalter der Digitalisierung“ zusammen mit dem Deutschen Hospiz- und PalliativVerband und der Katholischen Akademie in Berlin organisiert. Und nicht zuletzt hat auch der Deutsche Ethikrat seine Jahrestagung 2019 unter das Thema „Pflege – Roboter – Ethik“ gestellt. Wir freuen uns, diese Diskussion in dieser Ausgabe des EthikJournals um einige wichtige Beiträge ergänzen zu können, die uns geeignet erscheinen, die Debatte in wesentlichen Hinsichten voranzubringen.
Bei allen Differenzierungen im Detail und unterschiedlichen Akzentsetzungen kommen die folgenden Beiträge nämlich interessanterweise in vier wesentlichen Punkten überein: (1) Ethische Reflexion ist notwendig, bevor durch technologische Entwicklung Fakten geschaffen werden und eine bereits eingespielte Praxis sich durch Verstetigung und Gewöhnung gegenüber kritischen Anfragen an ihre ethische Legitimierbarkeit immunisiert hat. (2) Technik ist nie bloß ein neutrales Werkzeug. In Techniken sind immer auch gesellschaftlich vermittelte Wahrnehmungsweisen, Problem- und Situationsverständnisse eingeschrieben. (3) Technologische Entwicklungen sind in der Regel ambivalent, und dies gilt auch für die ‚Digitalisierung‘ der Pflege: Techniken, die den Erhalt von Selbständigkeit fördern, können auch zur Kontrolle und Überwachung eingesetzt werden. Techniken, die menschliche Sorge unterstützen, können diese auch verdrängen und ersetzen – wenn beispielsweise der Einsatz unterstützender Techniken zu einer Arbeitsverdichtung für Pflegekräfte führt. (4) Alle Beiträge kommen darin überein, dass digitale Bildung und Ausbildung nicht technokratisch und anwendungsbezogen verkürzt werden darf. Ein Ergebnis der vorliegenden Untersuchungen, das in seiner Bedeutung und Tragweite nicht überschätzt werden kann, lautet: Ethische Reflexionsfähigkeit, geisteswissenschaftliche und philosophische Bildung sowie ein Wissen um die gesellschaftlichen Voraussetzungen und Funktionen von Technik sind kein äußerlicher Zusatz, sondern müssen als integraler Bestandteil ‚digitaler Kompetenzen‘ begriffen werden.
Fachartikel
Ammicht Quinn 1/2019
Regina Ammicht Quinn (unter Mitarbeit von Mone Spindler)
Zwischen Fürsorge und Kontrolle
Ethische Überlegungen zu Techniken für ein gutes Alter
Zusammenfassung Techniken für ältere Menschen sind nicht neutral. In sie sind Werte eingeschrieben, sie verändern den Kontext, in dem sie eingesetzt werden, und sie verändern die Perspektive auf die Welt. Wenn Altern nicht nur eine persönliche, eine gesellschaftliche und eine ökonomische Frage, sondern auch eine ethische Frage ist, müssen Techniken auch ein gutes Leben im Alter stützen. Der Text zeichnet nach, warum und wie Techniken zur Gestaltung von Fürsorgebeziehungen und zur Bewahrung und Entwicklung von Fähigkeiten taugen sollten. Schließlich werden Reflexionsfragen formuliert, die im schwierigen Kontext von Alter, Fürsorge, Pflege und Selbstbestimmtheit helfen können zu klugen Entscheidungen zu kommen.
Schlüsselwörter Alter – Technik – Ethik – Pflege – gutes Leben – Klugheit
Reichel und Reichel 1/2019
Karin und Rebecca Reichel
Digitale Kompetenzen für die Pflege 4.0
Warum IT-Schulungen zu kurz greifen
Zusammenfassung Digitalisierung spielt in allen Bereichen der Gesellschaft eine zentrale Rolle, wobei die Pflege keine Ausnahme darstellt. Wie auch in anderen Branchen stehen Führungskräfte wie Angestellte vor der Frage, wie mit den neuen Technologien umgegangen werden soll und wie sie nutzbringend in den Arbeitsalltag integriert werden können. In diesem Artikel beschäftigen wir uns mit drei zentralen Fragen: Welche Fragestellungen ergeben sich an den Schnittstellen von Pflege und Digitalisierung und welche Kompetenzen benötigen Pflegekräfte, um diesen angemessen begegnen zu können? Welche Risiken entstehen durch den vermehrten Einsatz von Informations- und Kommunikationstechnologien (IKT) in der Pflege und wie können diese vermieden werden? Welche Maßnahmen müssen ergriffen werden, um die Qualifikation der Pflegenden gezielt voranzutreiben?
Schlüsselwörter Digitalisierung, IKT, digitale Kompetenzen, Pflege 4.0, Qualifizierung
Manzeschke 1/2019
Arne Manzeschke
Roboter in der Pflege
Von Menschen, Maschinen und anderen hilfreichen Wesen
Zusammenfassung Digitalisierung und Roboterisierung sind Entwicklungen, die das Gesundheitswesen insgesamt, in besonderer Weise aber die Pflege herausfordern. Pflege ist in fundamentaler Weise Beziehungsarbeit und so gewinnt die Frage nach der Gestaltung der Beziehung zu den Robotern eine besondere Bedeutung. Roboter sind keine einfachen Werkzeuge mehr oder Maschinen, die wir nach unseren eigenen Anforderungen einsetzen. Roboter, wie sie für die Pflege aktuell entwickelt werden, sind komplexe technische Gegenüber, die in die soziale Interaktion mit dem Menschen eintreten, wobei noch nicht klar ist, welchen sozialen und folglich welchen normativen Status wir diesen Erscheinungsformen zuerkennen sollen. Der Artikel bietet einige Orientierungsmarken für diese Diskussion aus einer ethischen und anthropologischen Perspektive.
Schlüsselwörter Alter – Technik – Roboter – Pflege – Digitalisierung – Ethik
John 1/2019
Emanuel John
Achtung der Selbstbestimmung und Beachtung des Wohls
Eine moralphilosophische Reflexion der Begründung wohltätigen Zwanges
Zusammenfassung Gilt für die Arbeit in professionellen Sorgebeziehungen das Prinzip der Achtung einer Person in ihrer Individualität und Selbstbestimmung, so muss bei der Anwendung von Zwang die Gefahr der Missachtung hilfebedürftiger Personen bedacht werden. Dieser Text nimmt eine moralphilosophische Reflexion dieser Anforderung vor. Dabei zeigt sich, dass auch eine Unterlassung der Anwendung von Zwang mit der Gefahr einer moralischen Verletzung der hilfebedürftigen Person verbunden sein kann. Zudem werden Unsicherheiten bei der Wahrnehmung von Verantwortung für das Wohl hilfebedürftiger Personen herausgestellt. Im Bewusstsein dieser Unsicherheiten kann die Anwendung von Zwang als Wohltat gerechtfertigt werden.
Schlüsselwörter Achtung der Selbstbestimmung – Wohl – Missachtung – Unsicherheit in Sorgebeziehungen