EthikJournal 9. Jg. (2023) Ausgabe 1

"Moralische Belastungssituationen - Herausforderung für sozialprofessionelle Ethik"

 

Editorial


Andreas Lob-Hüdepohl und Annette Riedel

Neue gesellschaftliche und strukturelle Herausforderungen, zunehmende professionelle Anforderungen bei gleichzeitiger Ressourcenknappheit und auch eine zunehmende Komplexität ethischer Fragestellungen und Konflikte verstärken in nahezu allen Berufen des Gesundheits- und Sozialwesens das Phänomen „moralischer Belastungssituation“. Unter diesem Phänomen verstehen wir das immer wiederkehrende Auseinanderklaffen zwischen dem normativen Anforderungsprofil des etablierten Berufsethos oder sogar der kodifizierten Professionsmoral („Ethikkodex“) einerseits und dem tatsächlich realisierten und realisierbaren beruflichen Handeln andererseits, das nicht selten im Widerspruch zu den normativen Verbindlichkeiten des eigenen Berufsstandes steht.

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Fachartikel


Michael Coors

Verletzlich durch Moral. Moralische Vulnerabilität und Resilienz im Spannungsfeld von Moralpsychologie und normativem Anspruch.

Zusammenfassung Die Begriffe der moralischen Vulnerabilität und Resilienz werden in der Diskussion über moralische Belastungssituationen in der Regel als moralpsychologische Begriffe verwendet. Die Frage nach dem Umgang mit moralischer Vulnerabilität impliziert aber auch normative Aspekte, die im Folgenden vor dem Hintergrund der ethischen Diskussion über die menschliche Verletzlichkeit analysiert werden. Es wird argumentiert, dass Interventionen, die die moralisch vulnerabilisierenden Effekte des Gesundheitssystem reduzieren, gegenüber Interventionen, die die betroffenen Personen moralisch resilienter machen sollen, aus ethischen Gründen vorzuziehen sind. Die Frage nach dem Umgang mit moralischer Verletzlichkeit kann sich dabei nicht allein am subjektiven Erleben orientieren, sondern muss als intersubjektiv zu diskutierende normative Frage der Gerechtigkeit begriffen werden.

Schlüsselwörter:  moralische Vulnerabilität, moralische Resilienz, Moralpsychologie, Normativität, Gerechtigkeit, Responsibilisierung

Artikel


Sabine Schäper

Moralisches Unbehagen - moralischer Stress - moralische Verletzung. Aktuelle Zumutungen für Mitarbeitende in der Eingliederungshilfe.

Zusammenfassung In dem vorliegenden Text dient Vulnerabilität als Deutungshorizont sozialer Probleme am Beispiel des Phänomens der Einsamkeit im Zusammenhang mit der „Strategie körperlicher Distanz“ im Rahmen von Coronaschutzmaßnahmen. Es werden Mechanismen der Vulnerabilität entlang der Aspekte Prävention, Vulnerabilisierung, Risikogruppen und Soziale Probleme und deren Übertragbarkeit auf und Konsequenzen für die Soziale Arbeit herausgestellt. Dabei zeigt sich, dass unterschiedliche Verständnisse von Vulnerabilität zu unterschiedlichen paradigmatischen sozialarbeiterischen Zugangsweisen führen.

Schlüsselwörter Vulnerabilitätstheorie, Schutzmaßnahmen und Einsamkeit, Einsamkeit als soziales Problem, Vulnerabilisierung, gelingendes Leben

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Sabine Schneider

Moralische Belastungssituationen in der Sozialen Arbeit - Konkretisierungen im Kontext von Armut und Wohnungsnot.

 

Zusammenfassung

Der folgende Beitrag geht bei der Analyse moralischer Belastungssituationen von der Profession und Disziplin Sozialer Arbeit aus, deren Gegenstand insbesondere die Analyse und Bearbeitung sozialer Probleme und alltäglicher Bewältigungsanforderungen umfasst.  Seit den 1970er Jahren hat sich das entsprechende Arbeitsfeld erheblich ausdifferenziert – inwiefern belastende Spannungsfelder dabei zum Gegenstand wissenschaftlicher Reflexionen wurden, ist Thema des ersten Abschnitts (Kap. 1). Angesichts der Breite Sozialer Arbeit wird zur anschließenden Konkretisierung moralischer Belastungssituationen ein spezifischer Fokus gewählt: Arbeitskontexte, in denen Menschen, die von Armut und Wohnungsnot betroffen sind, durch Fachkräfte unterstützt, beraten oder begleitet werden (insbesondere Beratungsangebote im Kontext der Wohnungsnotfallhilfe). Auf der Basis einiger ausgewählter, in empirischen Studien rekonstruierter Erfahrungen wird exemplarisch nachvollziehbar, welche Situationen Fachkräfte in diesen Arbeitskontexten als belastend erleben (Kap. 2) und anschließend skizziert, welche Impulse zur Bewältigung dieser Situationen sich im Fachdiskurs finden lassen (Kap. 3).

Schlüsselwörter: Moralische Belastung, Wohnungslosigkeit, Armut

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Stefan Kurzke-Maasmeier

Befürfniskollisionen. Professionsethische Skizzen zur Dynamik und Semantik "moralischer Belastungen" im Kontext stationärer Jugendhilfe

Zusammenfassung: Die stationären Hilfen zur Erziehung stehen unter erheblichem Druck. Dieser zeigt sich sowohl in den berufsfeldspezifischen Herausforderungen angesichts komplexer Krisenphänomene als auch in der Veränderung der motivationalen Faktoren sozialpädagogischen Handelns. Das Erleben des Zwiespalts zwischen den professionellen und normativen Ansprüchen einerseits und den gegebenen strukturellen Gegebenheiten der stationären Jugendhilfe andererseits zeitigt wiederum Folgewirkungen auf den unterschiedlichen Ebenen der Hilfe, die allesamt von erheblicher Bedeutung für die pädagogische Qualität und damit auch für die Realisierung von Rechtsansprüchen junger Menschen sind. Die Rückbesinnung auf einige normative Grundlagen und Grundhaltungen der Sozialpädagogik können Antwortversuche auf die allenthalben wahrnehmbare (moralische) Erschöpfung sozialprofessioneller Präsenz in den Feldern der stationären Erziehungshilfe darstellen. Allerdings wird die Revitalisierung pädagogischer Handlungsmotivation nicht ohne eine grundlegende Veränderung struktureller Rahmenbedingungen dieser Hilfeform gelingen.

Schlüsselwörter: Stationäre Jugendhilfe, moralischer Stress, Bedürfniskonflikte, Grundhaltungen, Sozialpädagogische Ethik

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Karen Klotz und Annette Riedel

Moralisches Belastungserleben von Pflegefachpersonen im Lichte des ICN-Ethikkodex

 

Zusammenfassung: Ethisch herausforderungsvolle Situationen führen bei Pflegefachpersonen wiederkehrend zu Verletzungen der moralischen Integrität und infolgedessen häufig auch zu moralischem Belastungserleben. Moralisches Belastungserleben als Phänomen wird näher definiert und in einen Zusammenhang mit dem ICN-Ethikkodex für Pflegefachpersonen (2021) gebracht. Skizziert werden die moralischen Herausforderungen, die durch im Kodex beschriebene Forderungen entstehen, sowie Potenziale, die der Kodex hinsichtlich des Umgangs mit dem moralischen Belastungserleben für Pflegefachpersonen bietet. Hierdurch ist es möglich, die professionsethischen Ansprüche und normativen Rahmungen einerseits sowie die ethischen Herausforderungen und moralischen Anforderungen andererseits aus einer professionsbezogenen und professionsethischen Perspektive darzulegen.

Schlüsselwörter Moralisches Belastungserleben; Moral Distress; Ethik; ICN-Ethikkodex; Organisationsethik; Pflege

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  • ISSN 2196-2480