Die Unterstützung einer selbstbestimmten Lebensführung in gelingenden Gemeinschaften ist für eine menschenrechtsbasierte Soziale Arbeit oberste Verpflichtung. Die International Federation of Social Work kleidet diesen normativen Sachverhalt in die Formulierung der „Befreiung des Menschen“ als Gipfelpunkt professioneller Sozialer Arbeit. Damit knüpft sie das Selbstverständnis Sozialer Arbeit unmittelbar an das anthropologische Grunddatum menschlicher Freiheit. Freilich ist das Verständnis menschlicher Freiheit durchaus strittig - in der öffentlichen Diskussion ebenso wie in der philosophischen oder auch sozialwissenschaftlichen Debatte.
EthikJournal 10. Jg. (2024) Ausgabe 1
"Freiheit(en), die wir meinen"
Fachartikel
Andreas Heinz/Sabine Müller
Das Freiheitsverständnis der Psychiatrie.
Abstract: Freiheit wird in der Psychiatrie vor allem in zwei Kontexten diskutiert: einerseits im Kontext der Willensfreiheit-Debatte, andererseits im Kontext von Einschränkungen der Willensbildung durch Beeinträchtigungen der Einsichts-, Urteils- und Steuerungsfähigkeit durch psychische Erkrankungen. Für die klinische Praxis ist die grundsätzliche Frage eines von neurobiologischen Korrelaten unabhängigen freien Willens nicht entscheidend. Vielmehr geht es hier um konkrete Beeinträchtigung von Fähigkeiten, die der Einwilligungs-, Geschäfts-, Testier- oder Schuldfähigkeit zugrunde liegen. Beispiele sind Einschränkungen der Bewusstseinshelligkeit, der räumlichen oder zeitlichen Orientierung, der Merkfähigkeit oder der Gedächtnisfunktion, ebenso wie visuelle oder akustische Halluzinationen oder der Verlust der affektiven Schwingungsfähigkeit. Derartige Einschränkungen können soziale oder unmittelbar (neuro-)biologische Ursachen haben.
Schlüsselwörter: Willensfreiheit, Freiverantwortlichkeit, Determinismus, Einwilligungsfähigkeit, Schuldfähigkeit
Ulf Liedke
Das inklusive Gewebe sozialer Freiheit. Notizen zum Freiheitsbegriff und seiner Bedeutung für die Soziale Arbeit.
Abstract: In der ethischen Diskussion wird über die negative „Freiheit von etwas“ und die positive „Freiheit zu etwas“ hinaus ein dritter, kommunikativer bzw. sozialer Freiheitsbegriff diskutiert. Dieser Freiheitsbegriff lässt sich plausibel mit dem Paradigma der Inklusion verknüpfen. Die These des Beitrages besteht darin, dass sich Freiheit umfassend erst in gemeinsamen, kooperativen Sozialbeziehungen verwirklicht, die zugleich durch die inklusive Anerkennung von Heterogenität und Vielfalt charakterisiert sind. Dieser inklusive, soziale Freiheitsbegriff vertieft das normative Selbstverständnis Sozialer Arbeit. Durch professionelle Unterstützungssettings wechselseitigen Anknüpfens lässt sich inklusive, soziale Freiheit ebenso realisieren wie durch Prozesse des Community Organizing sowie eine Politik Sozialer Arbeit, die sich als Menschenrechtspolitik versteht.
Schlüsselwörter: Ethik Sozialer Arbeit, Ethik der Inklusion, kommunikative Freiheit, soziale Freiheit, Anerkennung, Selbstbestimmung, Autonomie
Johannes Giesinger
Autonomie in pädagogischer Perspektive.
Abstract: Dieser Beitrag geht der Frage nach, wie ein für den pädagogischen Kontext relevanter Begriff von Autonomie aussehen könnte. Dabei soll es sich um eine Form von Autonomie handeln, die pädagogisch handlungsorientierend sein kann und zudem realisierbar ist. Es werden zwei Funktionen des Autonomiebegriffs im pädagogischen Kontext unterschieden – Autonomie als Bedingung für Respekt und als Erziehungsziel. Vor diesem Hintergrund wird eine Konzeption autonomieorientierter Erziehung entwickelt, die den Fokus darauf legt, Lernende in Praktiken der Selbstverständigung (d.h. der Selbstwahrnehmung, Selbstprüfung und Selbstdefinition) einzuführen, die ihnen die Bildung eines autonomen Selbst ermöglichen.
Schlüsselwörter: Autonomie, relationale Autonomie, Authentizität, Erziehung, Selbstverständigung
Sabine Pankofer
Freiheit in der geschlossenen Unterbringung - ein Widerspruch?
Abstract: Im Hinblick auf die Fragen von Freiheit und Selbstbestimmung von Kindern und Jugendlichen auch unter freiheitsentziehenden Bedingungen stellen sich vor allem rechtliche und pädagogische Fragen. Anhand eines Fallbeispiels wird deutlich, welche besonderen Herausforderungen sowohl für geschlossen untergebrachte junge Menschen als auch für Mitarbeitende und Institutionen der Jugendhilfe bestehen. Partizipation, gelingende Beziehung und Kooperation sind die Kriterien für ein Gelingen von Jugendhilfemaßnahmen, auch in geschlossenen Heimen. Das lässt sich auf der Basis von aktuellen empirischen Ergebnissen deutlich nachweisen und daraus Hinweise ableiten, wie ein erfolgreicher Umgang mit problembelasteten jungen Menschen trotz Freiheitsentzugs aussehen kann.
Schlüsselwörter: Geschlossene Unterbringung, Freiheitsentzug, Legitimität von Freiheitsentzug, Wirkfaktoren von Heimerziehung, Beziehungsqualität, Partizipation
Kristina Kieslinger
„Soll ich jetzt für meine Klient*innen beten?!“ Stark relationale Autonomie als Beitrag der Theologischen Ethik zum angewandten Freiheitsverständnis der Sozialen Arbeit.
Abstract: Was bedeutet die Behauptung von Theolog*innen, dass sich Freiheit nur in Beziehung verwirklichen könne, im Fall eines Häftlings, der aufgrund zweier lebenslanger Haftstrafen nach Suizidassistenz verlangt? Dieser Artikel vertritt die These, dass der Beitrag der Theologischen Ethik zum Freiheitsdiskurs in der Sozialen Arbeit in einer relational gefassten Autonomie liegt. Durch die Beziehung zu einem Absoluten steht der Mensch in einer Dialektik des Sich-Selbst-Überschreitens (Transzendenz) und Zu-Sich-Selbst-Kommens. Sozialarbeiter*innen können ihren Klient*innen zur Transzendenz werden (und umgekehrt!), und zu deren gelingendem Leben beitragen. Dazu müssen Strukturen, welche Beziehungen des Menschen untergraben oder gar scheitern lassen, radikal in Frage gestellt werden.
Schlüsselwörter: Autonomie, Relationale Autonomie, Theologische Ethik, Strafvollzug, Assistierter Suizid, Unverfügbarkeit